Erfahrungsbericht: Steuerberaterprüfung 2022 – Lernen mit einem vier Monate alten Baby – Why not?
von Gamze Sezer
An erster Stelle möchte ich Julius danken, der es mir ermöglicht hat, meine Erfahrungen mit Euch teilen zu dürfen. Ich bin verdammt froh auf examio gestoßen zu sein, ansonsten hätte tatsächlich nur stupide Klausuren geschrieben und mich immer wieder über die schlechten Klausurnachbesprechungen geärgert und wäre vermutlich ganz frustriert das Examen angetreten.
Atmen. Atmen. Atmen. So bin ich am letzten Prüfungstag aus dem Prüfungssaal in die Garderobe gesprintet, um meinen Koffer zu holen und meine Sachen zu packen.
Danach. Weinen. Weinen. Weinen. Und einfach nur unfassbar dankbar, dass es ENDLICH VORBEI IST, egal wie es tatsächlich gelaufen ist. Ich bin die letzten 10 Jahre einige berufliche sowie schulische Umwege gegangen, jedoch war dieses „Lernen mit Baby“ schon eine heftige Hausnummer. Auch für mich. Für mich, die immer zielstrebig, ehrgeizig und mit viel Ausdauer ihre Ziele verfolgt und diese immer erreicht hat. Wenn ich jetzt zurückdenke, muss ich definitiv verrückt gewesen sein, einen an der Waffel gehabt haben, mir so viel auf einmal zuzutrauen, unter solch krassen Bedingungen.
Genau sieben Tage nach der Entbindung habe ich mich offiziell aus dem Wochenbett entlassen. Ich hatte einfach keine Lust mehr. Ich wollte Bäume ausreißen, wieder lange Spaziergänge machen, ganztags lernen… Irgendwie ging das noch nicht. Weder das Lernen, noch die langen Spaziergänge. Ich war extrem übermüdet und irgendwie überfordert. Ich musste mich an die neue Situation gewöhnen. Plötzlich war da ein kleines Wesen, dass ohne mich nicht überleben konnte. Aber ich musste jetzt doch „Vollgas“ lernen, um das Examen zu bestehen, bestehen zu können. Alle gingen doch langsam in die langersehnte Freistellung, während ich - ich hier mich um ein Baby kümmern, mich im neuen Alltag zurechtfinden, meinen neuen Schlafrhythmus finden musste… Was hatte ich mir nur dabei gedacht? Die ersten Tage habe ich heimlich viel geweint, weil ich mir dachte, dass ich das alles nicht stemmen kann: das intensive Lernen, der Kleine und und und … Aber rückblickend kann ich sagen: Ich habe es geschafft das Examen anzutreten – nicht mit Ach und Krach, sondern mit gaaaaaaaaaaaaaaaaaaanz viel Liebe meines Kleinen, knallharter Disziplin, extrem detaillierter Planung, viel Tränen und meine unermüdliche Motivation Steuerberaterin zu werden. Ich habe mir jeden Tag zugeredet, dass ich alle drei Etappen schaffen werde: 1. Examen antreten, 2. die schriftliche Prüfung bestehen und 3. die mündliche Prüfung rocken und den Titel für meinen Kleinen Sonnenschein nach Hause holen!
Ich habe ganz früh angefangen dem Kleinen Routinen nahezulegen. Hört sich erstmal etwas komisch und verrückt an. Wie kann denn bitte ein so kleines Baby Routinen haben? Natürlich! Jeden Tag sind wir zur gleichen Zeit aufgewacht & eingeschlafen (bzw. wir haben es versucht und es hat tatsächlich sechs von sieben Tagen IMMER funktioniert), danach habe ich ihn umgezogen, gewickelt und frisch gemacht. Das Einschlafen habe ich bestimmt und das Aufwachen natürlich der Kleine. Mit dem ersten Kaffee habe ich mich auch schon spätestens um 8 Uhr auf die Couch gesetzt (mal früher, mal später je nach dem wie der Kleine gerade Lust hatte 😉), mit Baby auf dem Stillkissen. Wie? Ich habe mich auf die Couch gesetzt? Ich dachte, jetzt wird gelernt? Ja, genau so wurde gelernt. Kind auf dem Stillkissen, das Stillkissen auf Mamas Schoß, rechts und links von mir mein Schreibzeug, meine Gesetztestexte/Handbücher und meine Klausuren bzw. Klausurnacharbeiten. So lief das ca. 6 Wochen bis es im Wohnzimmer dann doch zu laut wurde und wir ins Schlafzimmer umgezogen sind. Das Beistellbett war leider nicht in Gebrauch, weil der Kleine dies nicht so mochte. Deshalb habe ich das Beistellbett zur Lernablage umfunktioniert 😊 So habe ich dann bis vier Wochen vor dem Examen mit dem Kleinen auf dem Ehebett gelernt, bis dann der „große“ Schub kam und der Kleine plötzlich nur noch 30 Minuten tagsüber geschlafen hat und 1,5 bis 2 Std. am Stück bespaßt werden wollte. Bis zu diesem Zeitpunkt hat der Kleine tatsächlich morgens 3-4 Stunden am Stück (an der Brust) auf dem Stillkissen geschlafen, so dass ich lernen konnte. In Ruhe lernen sieht eigentlich anders aus, aber auch unter anderen „normalen“ Bedingungen. Bei mir war ja keine Situation mehr normal. Ich hatte durchgehend einen steifen Nacken, vom falschen Sitzen bzw. auf dem Bett sitzend lernen. Und zu guter Letzt musste ich auch 2-3 Tage eine Nackenkrause tragen, da ich meinen Nacken weder nach rechts noch nach links bewegen konnte. Aber dennoch habe ich meine Nacharbeiten erledigt, auch, wenn’s einfach keinen Spaß mehr gemacht hat unter solchen Bedingungen zu lernen. Die letzten vier Wochen habe ich dann weiterhin mit meinen Ohropax versucht zu lernen, nebenbei das Kind bespaßt, Kinderlieder gesungen, ihn gestillt oder über Spotify Kinderlieder laufen lassen, weil ich einfach nicht mehr zum 1000ten Mal das gleiche Lieblingslied vom Kleinen singen konnte, weil ich ja neben dem Singen doch etwas lernen musste. Ich schreibe gerade diesen Text so locker flockig vor mich her… Aber, wenn ich zurückdenke... Es war so eine verdammt eklige Zeit. Ich habe die letzten sechs Wochen 7-8 Stunden gelernt, den Kleinen knapp zwei Stunden im Anschluss an die frische Luft gebracht und dann ab 19 Uhr mir die online-Mitschnitte von examio angeschaut. Mir hat wortwörtlich der Kopf geraucht. Ich weiß auch, dass dann auch an manchen Tagen nur 50% hängen geblieben sind, weil ich übermüdet, gestresst, genervt, hungrig war oder einfach nur Angst hatte. An solchen Tagen war ich dann nur noch froh, dass dieser Tag vorbei war. Die letzten sechs Wochen habe ich keine Klausuren mehr geschrieben, sondern drei Klausuren an jeweils zwei Tagen intensiv nachgearbeitet, da ich mit dem Kleinen keine Zeit mehr hatte, denn er wollte wirklich aktiv bespaßt werden und forderte mich zusätzlich heraus. Ich habe die Klausuren wirklich intensiv nachgearbeitet. Jede Fundstelle akribisch im Gesetz gelesen & ggf. nachmarkiert und auch angefangen eigene Karteikarten zu den Fällen zu schreiben. Aufgrund der Tatsache, dass der Kleine ein Stillkind ist und weder Flasche noch Schnuller akzeptiert, habe ich ihn kaum an meinen Mann abdrücken können. Abdrücken hört sich auch schon fies an. Ich habe den Kleinen nicht so leicht abgegeben können 😊. Natürlich hat er immer wieder tagsüber den Kleinen kurzzeitig abnehmen können, so dass ich ein wenig alleine lernen konnte. Ich dachte nämlich nach und vor der Entbindung auch, dass ich den Kleinen tagsüber den Großeltern für lange Spaziergänge abgeben könnte. Ja, das hat 1-2 Wochen super geklappt, bis der Kleine endgültig den Kinderwagen verweigert hat und ich somit wieder ganztags den Kleinen hatte. Ich habe es am Ende aus eigener Kraft, aus eigenem Willen, mit meiner Motivation geschafft das Examen psychisch gesund anzutreten.
Was ich aus meiner ehrlichen Erfahrung so mitgeben kann, was ich gut geplant bzw. nicht so gut geplant habe, welche Investitionen ich mir hätte sparen können und welche Investitionen auf alle Fälle jeden Cent wert waren…
Was ich auf alle Fälle sehr gut hinbekommen habe (drei Mal Schulterklopfer 😉):
- Von einem extrem ungeduldigen Menschen zu einem semi-geduldigen Menschen durch den Kleinen geworden; er hat mich eines besseren belehrt, dass er nun die Hosen im Hause Sezer anhat 😉
- Jeden Tag so hingenommen; dran ändern konnte ich sowieso nichts, lediglich das Beste aus der Situation machen,
- Keineswegs meinen Kleinen die Schuld gegeben, wenn ich mal nicht lernen konnte, weil es ihm nicht gut ging oder er einfach mal den ganzen Tag gequengelt hat; ich war dann genau an solchen Tagen einfach Mama und wollte auch nicht mehr als das leisten,
- Mich von niemanden beeinflussen lassen, dass es mit Baby kaum bis nicht machbar ist das Examen zu bestehen (ich dachte mir nur: Are you serious? Nur, weil Du’s Dir nicht zutraust, musst Du mir mein Vorhaben nicht schlecht reden 😉),
- Social Media frühzeitig deaktiviert, um das „Konkurrenzgefühl“ von vornherein auszuschließen und dadurch weniger Druck von außen zuzulassen
- Mich frühzeitig mit „was wäre, wenn…“ beschäftigt,
- Zu 100 % hinter meiner Entscheidung stehen, das Examen mit Baby zu schreiben und zu bestehen, egal wie es am Ende tatsächlich ausgeht,
- bis sechs Wochen vor dem Examen Samstag + Sonntag immer nicht gelernt bzw. an einem der Tage nicht gelernt; je nachdem wie die Woche eben lief; ein Tag Pause war immer drin.
Was ich hätte besser machen können:
- Mich einfach viel weniger stressen,
- mehr Lernpausen einlegen,
- das Essen nicht vergessen,
- einfach mal weniger von mir erwarten.
Investitionen, die ich mir hätte sparen können:
- Anschaffung eines neuen Druckers, weil mein alter Drucker die Patronen am Ende gefühlt nur noch "gefressen“ hat und ich jede Woche neue Patronen besorgen musste, weil ich so viel ausgedruckt habe (ich bin da sehr altmodisch unterwegs – ich habe ganz gerne alles noch zusätzlich in Papierform 😊)
- Buchung von zwei parallellaufenden Klausurenfernkursen – einen Klausurenfernkurs habe ich nach genau neun Klausuren abgebrochen und den Kurs storniert. Nicht, weil ich es zeitlich nicht geschafft habe, sondern, weil diese Klausuren einfach keinen Spaß gemacht haben (zu viele Exotenthemen, die im Examen niemals drankommen können, Nachbesprechungen unterirdisch schlecht),
- Klausurtechnik-Karteikarten (nicht weil diese schlecht sind, sondern weil ich sie zu spät bestellt und dadurch kaum Zeit hatte die Karteikarten zu nutzen; für den Klausureneinstieg sind die Karteikarten extrem geeignet zwecks Einstiegssätze etc.)
Lohnenswerte Investitionen:
- mein geliebtes IPad – das hätte ich mir viel früher anschaffen müssen, dadurch hätte ich ganz viel Papier, stundenlange Druckarbeit und etliche Druckerpatronen gespart; dadurch habe ich auch nachts, wenn der Kleine neben mir schlief, mit Kopfhörern examio-Mitschnitte anschauen oder Skripte/Klausuren bearbeiten können
- kostenpflichtige examio-Mitschnitte, vor allem die Intensivkurse zu Bilanzsteuerrecht und Umsatzsteuer; beide Intensivkurse haben mir wortwörtlich „den Hintern gerettet“ 😊; ich habe bis dato nicht mal zwischen einer Lieferung und sonstigen Leistung unterscheiden können (danke Herr Schröders, dass ich USt auch mag!!!!!)
- examio-Mitschnitte zu den kostenlosen Webinaren,
- examio-Lehrbriefe & die dazugehörigen Kurzvideos, die ich vor der Entbindung jeden Tag beim Spazierengehen angehört habe,
- BFM-Handbücher: AO (ein MUSS!!!), USt, ESt, ErbSt; ins Examen durften das AO/USt- und ESt-Handbuch; das ErbSt-Handbuch war leider aus dem Jahr 2020 und somit nicht Rechtsstand 2021, jedoch habe ich alle Klausuren mit diesem Handbuch gelöst
- AO-Repetitorium von Bannas bei Herrn Bähr
Ich werde das Examen, wenn ich nicht bestanden haben sollte, vorerst nächstes Jahr nicht ein zweites Mal antreten. Erst wenn der Kleine einigermaßen „nachvollziehen“ kann, warum Mama lernen muss, werde ich das zweite Mal antreten. Mein Kleiner fordert gerade extrem, lernt viel und ist ein frohes und aufgewecktes Kind. Da möchte ich nicht, dass mein Kind wegen meinem falschen Ehrgeiz leiden muss. In diesem Fall falscher Ehrgeiz, weil mein Kind mich mehr braucht, als dass ich den Titel brauche.
Bitte denkt daran, dass ihr alles schaffen könnt, was ihr Euch vorgenommen habt. Jedoch ist der Weg bis zum Examenstag, ganz ehrlich, extrem steinig, hart und belastend, und mit Baby noch härter und noch steiniger. Der ganze Spaß ist nichts für schwache Nerven. Aber – wo der Wille ist, ist auch ein Weg! Wenn ihr Euch damit zu 100% auseinandergesetzt habt, was auf Euch zukommen kann/zukommen wird, dann werdet ihr das auch schaffen. Bitte vergesst nicht, mit einem Kleinkind ist es sehr schwierig den Tag durchgehend zu planen, ihr müsst auf alle Fälle von extrem starr zu extrem flexibel switchen, so wie ich das machen musste… 😊 Ansonsten werdet ihr jeden Tag die Schuld beim Kleinen suchen, warum ihr nicht zum Lernen gekommen seid. Der Kleine ist aber in Wahrheit gar nicht Schuld daran, dass DU nicht zum Lernen gekommen bist, sondern DU selbst… Weil Du einfach nicht flexibel genug bist/warst.
Im Großen und Ganzen war es für mich auf alle Fälle eine extreme Erfahrung, die ich heute rückblickend, stolz gemeistert habe.
In diesem Sinne hoffe ich, dass ich allen Müttern/werdenden Müttern/Elternteilen insgesamt, auch wenn nur ein wenig, Mut zusprechen konnte.
Eure Gamze
Wer schreibt hier?
Gamze Sezer ist Steuerberater-Anwärterin 22/23 und Teilnehmerin bei steuerkurse.de. Gamze lebt in München und arbeitet dort bei WTS Steuerberatungsgesellschaft mbH im Bereich Corporate Tax. Nach Ihrem Wirtschaftsrechts-Studium hat sie zuvor 5 Jahre bei Deloitte gearbeitet.