Inhaltsverzeichnis
Grundzüge des Arbeitsrechts
Einleitung und Struktur des Arbeitsrechts
In diesem Skript sollen Ihnen die Grundzüge des Arbeitsrechts erläutert werden, damit Sie gut auf die mündliche Prüfung des Steuerberaterexamens vorbereitet sind.
Das Arbeitsrecht untergliedert sich in drei große Teilbereiche. Das Individualarbeitsrecht, das kollektive Arbeitsrecht und das arbeitsgerichtliche Verfahren.
Das individuelle Arbeitsrecht umfasst die Beziehung zwischen einem einzelnen Arbeitnehmer und seinem Arbeitgeber. Es geht insbesondere um die Begründung des Arbeitsverhältnisses, dessen Durchführung und Inhalt und dessen Beendigung.Dütz/Thüsing, Arbeitsrecht, 29. Auflage 2024, Rn. 3
Beispiel
Arbeitnehmer A fragt sich, ob er gekündigt werden darf, weil er aufgrund von Zugverspätungen zweimal zu spät zur Arbeit gekommen ist.
Von kollektivem Arbeitsrecht spricht man, wenn ein Zusammenschluss von Arbeitnehmern dem Arbeitgeber „als Kollektiv“ gegenübersteht und diese Arbeitsbedingungen gemeinsam ausarbeiten. So können Gewerkschaften mit dem Arbeitgeber einen Tarifvertrag aushandeln oder der Betriebsrat mit dem Arbeitgeber eine Betriebsvereinbarung schließen.Vgl. Waltermann, Arbeitsrecht, 20. Auflage 2021, Rn. 21
Beispiel
Die Gewerkschaft V will einen Tarifvertrag mit Arbeitgeber M schließen. Aus diesem Grund ruft sie ihre Mitglieder zum Streik auf.
Das dritte Teilgebiet ist das arbeitsgerichtliche Verfahren. In diesem geht es darum, zu regeln, wann die Arbeitsgerichte zuständig sind und wie die Verfahren vor diesen ablaufen.
Beispiel
Arbeitnehmer A wurde schließlich gekündigt und möchte nun Kündigungsschutzklage vor den Arbeitsgerichten erheben.
Normenhierarchie und Rechtsquellen des Arbeitsrechts
Für das Arbeitsrecht gibt es kein eigenes Gesetzbuch, in dem sich alle arbeitsrechtlichen Vorschriften finden. Vielmehr sind diese über verschiedene Regelungswerke verstreut. Sich diese zu verinnerlichen, ist wichtig, um die entsprechenden Normen zu finden und ein Verständnis für das System des Arbeitsrechts zu entwickeln.
Normenhierarchie
Innerhalb der arbeitsrechtlichen Rechtsquellen hat nicht jede Norm dieselbe Stellung. Vielmehr gibt es eine Hierarchie der verschiedenen Rechtsquellen. Es gilt der Grundsatz: „höheres Recht bricht niedrigeres Recht”.
Auf oberster Stufe steht das Recht der Europäischen Union (Unionsrecht). Dem Unionsrecht kommt Anwendungsvorrang vor dem nationalen Recht zu.
Auf nationaler Ebene steht das Verfassungsrecht an oberster Stufe, also die Normen, die sich im Grundgesetz befinden. Dem Verfassungsrecht folgen zwingende Normen aus dem einfachen Recht, Tarifverträgen und Betriebsvereinbarungen.
Vertiefung
Zwingende Normen
Dass eine Norm zwingend ist, bedeutet, dass von ihr nicht (zu Lasten des Arbeitnehmers) abgewichen werden darf. Es darf z.B. mit dem Arbeitnehmer nicht vereinbart werden, dass er weniger als vier Wochen Jahresurlaub hat. Von den meisten Normen kann dagegen zugunsten des Arbeitnehmers abgewichen werden. So ist die Vereinbarung von mehr als vier Wochen Jahresurlaub ohne Weiteres möglich.vgl. Junker, Grundkurs Arbeitsrecht, 24. Auflage 2025, Rn. 64
Darüber hinaus gibt es sog. tarifdispositive Normen. Von diesen kann nicht durch einen Arbeitsvertrag abgewichen werden, aber durch einen Tarifvertrag. Ein Beispiel ist § 622 Abs. 4 S. 1 BGB, der u.a. regelt, dass andere Kündigungsfristen als die gesetzlich vorgegebenen vereinbart werden können.
Diesen zwingenden Normen schließen sich arbeitsvertragliche Regelungen und sodann nicht zwingende Normen aus Tarifverträgen, Betriebsvereinbarungen und Gesetzen an. Hierarchisch auf der untersten Stufe steht das Weisungsrecht des Arbeitgebers, welches vor allem durch arbeitsvertragliche Regelungen beschränkt wird.
Rechtsquellen des Arbeitsrechts
Zu den arbeitsrechtlichen Rechtsquellen schauen wir uns zunächst folgendes Lernvideo an, bevor wir die einzelnen Punkte sogleich weiter vertiefen:
Europarecht
Innerhalb des Europarechts finden sich wichtige Vorschriften im AEUV (Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union) und der Europäischen Grundrechtecharta.
In Art. 45 AEUV ist die Arbeitnehmerfreizügigkeit geregelt. Sie ermöglicht es Unionsbürgern, in jedem Mitgliedstaat eine Arbeit aufzunehmen.
Beispiel
So kann sich der französische Cellist C auf eine Stelle bei dem Freiburger Barockorchester bewerben, sich hierzu auf deutschem Bundesgebiet aufhalten und dort seine Beschäftigung als Cellist ausüben.
Eine weitere bedeutsame Norm ist das in Art. 157 AEUV geregelte Verbot der Entgeltdiskriminierung. Diese soll sicherstellen, dass Männer und Frauen in den Mitgliedstaaten das gleiche Entgelt für gleiche oder gleichwertige Arbeit erhalten.
Die Europäische Grundrechtecharta regelt u.a. die Berufsfreiheit (Art. 15 GRC), die unternehmerische Freiheit (Art. 16 GRC), Schutz vor ungerechtfertigten Entlassungen (Art. 30 GRC) und das Recht auf bezahlten Jahresurlaub (Art. 31 Abs. 2 GRC).
Grundgesetz
An die Grundrechte ist unmittelbar nur der Staat gebunden. Die grundrechtlichen Wertentscheidungen der Verfassung sind aufgrund ihrer Ausstrahlungswirkung jedoch bei der Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe und Generalklauseln zu beachten.Vgl. BVerfG, BeckRS 1958, 869, Rn. 15 ff. (Lüth-Urteil)
Beispiel
Zur Verdeutlichung folgendes Beispiel:
Eine muslimische Angestellte wird gekündigt, weil sie sich weigert, ohne Kopftuch zu arbeiten. Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat in dem Fall klargestellt, dass ein Arbeitgeber sein Weisungsrecht, also die Anweisung, kein Kopftuch zu tragen, nur innerhalb der Grenzen „billigen Ermessens” ausüben darf. Bei der Auslegung dieses Begriffs des „billigen Ermessens” müssen die Grundrechte, in dem Fall die Religionsfreiheit der Arbeitnehmerin, (Art. 4 Abs. 1 GG) beachtet werden. Es ist zwar auch die unternehmerische Freiheit (Art. 12 GG) des Arbeitgebers zu beachten, im Ergebnis kam das BAG jedoch dazu, dass es dem Arbeitgeber aufgrund des hohen Stellenwertes der Religionsfreiheit zumutbar ist, die Arbeitnehmerin auch mit Kopftuch zu beschäftigen.vgl.BAG, NZA 2003, 483
In dem Beispiel haben wir bereits die Glaubens- und Gewissensfreiheit kennengelernt, die in Art. 4 des Grundgesetzes geregelt ist.
Ein weiteres, für das Arbeitsrecht ganz zentrales Grundrecht, ist die Berufsfreiheit aus Art. 12 GG. Sie gewährt das Recht, Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte frei zu wählen. Art. 12 GG schützt aber nicht nur den Arbeitnehmer, sondern auch der Arbeitgeber kann sich auf die – ebenfalls aus Art. 12 GG folgende – Unternehmerfreiheit berufen.Junker, Grundkurs Arbeitsrecht, 24. Auflage 2025, Rn. 13
Für das kollektive Arbeitsrecht wichtig ist v.a. die Koalitionsfreiheit des Art. 9 Abs. 3 GG. Diese gewährleistet jedermann, Vereinigungen zur Wahrung und Förderung der Wirtschaftsbedingungen zu bilden. Die Koalitionsfreiheit wirkt, anders als die anderen Normen des Grundgesetzes, unmittelbar unter Privatpersonen. Dies liegt daran, dass die Koalitionsfreiheit ausdrücklich anordnet, dass Abreden, die die Koalitionsfreiheit einschränken oder zu behindern versuchen, nichtig sind. Darauf gerichtete Maßnahmen sind rechtswidrig.
Einfaches Recht
Arbeitsrechtliche Vorschriften finden sich verstreut in vielen verschiedenen Gesetzen.
Im BGB finden sich u.a. Vorschriften, wann ein Arbeitsverhältnis vorliegt (§ 611a BGB) und Vorschriften zu den ordentlichen und außerordentlichen Kündigungsfristen (§§ 622, 626 BGB).
Weitere wichtige Regelwerke sind das Kündigungsschutzgesetz (KSchG), das Teilzeit- und Befristungsgesetz (TzBfG), das Mindestlohngesetz (MiLoG) und das Entgeltfortzahlungsgesetz (EntgFG). Im Bereich des kollektiven Arbeitsrechts sind das Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) und das Tarifvertragsgesetz (TVG) zu nennen. Diese Normen werden wir uns jeweils an späterer Stelle genauer anschauen.
Weisungsrecht des Arbeitgebers
Zentrales Merkmal eines Arbeitsverhältnisses ist die Weisungsgebundenheit des Arbeitnehmers. Das Weisungsrecht des Arbeitgebers ist in § 106 GewO normiert. Der Arbeitgeber kann Inhalt, Ort und Zeit der Arbeitsleistung konkretisieren, soweit sich aus Arbeitsvertrag, Tarifvertrag, Betriebsvereinbarung oder gesetzlichen Vorschriften nichts anderes ergibt.
Beispiel
S ist bei U als Sekretärin in Teilzeit angestellt. Im Arbeitsvertrag ist vereinbart, dass S insgesamt eine tägliche Arbeitszeit von fünf Stunden hat. Einen Tarifvertrag oder eine Betriebsvereinbarung gibt es nicht. U kann S also anweisen, täglich von 08.00 Uhr bis 13.00 Uhr zu arbeiten.
Grenzen des Weisungsrechts ergeben sich vor allem aus der Tätigkeitsbeschreibung im Arbeitsvertrag.
Beispiel
A ist bei K als Steuerberaterin beschäftigt. K kann A nicht anweisen, von nun an als Sekretärin zu arbeiten.
Eine weitere Grenze des Weisungsrechts ist das billige Ermessen. Der Arbeitgeber muss bei der Ausübung seines Weisungsrechtes auch die Interessen des Arbeitnehmers im Blick haben und diese mit den betrieblichen Erfordernissen abwägen.
