Inhaltsverzeichnis
Grundzüge des Arbeitsrechts
Einleitung und Struktur des Arbeitsrechts
In diesem Skript werden die Grundlagen des Arbeitsrechts behandelt, um Sie auf Ihre mündliche Prüfung für das Steuerberaterexamen vorzubereiten. Das Arbeitsrecht ist ein wichtiger Bestandteil des deutschen Rechtssystems. Es regelt die Rechtsbeziehungen zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern (Individualarbeitsrecht), das Recht der Organisationen der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber und deren Rechtsbeziehungen zueinander und zu den Arbeitsvertragsparteien (Kollektivarbeitsrecht) sowie das Recht der Entscheidung von Arbeitsstreitigkeiten (Schlichtung und Arbeitsgerichtsbarkeit). Außerdem gibt es Vorschriften für arbeitnehmerähnliche Selbständige.
Das Individualarbeitsrecht teilt sich in zwei Hauptbereiche: das Arbeitsvertragsrecht und das Arbeitsschutzrecht. Das Arbeitsschutzrecht hat den Zweck, die Interessen und Rechte der Arbeitnehmer zu schützen, insbesondere in Bezug auf ihre Sicherheit, ihre Gesundheit und ihr Eigentum. Dieser Zweck wird durch die Festlegung von Mindeststandards im Bereich des technischen Arbeitsschutzes und die Festlegung von Vorschriften für die soziale Sicherheit verwirklicht.
Zum Kollektivarbeitsrecht gehören insbesondere das Koalitionsrecht, das Tarifvertragsrecht, das Arbeitskampfrecht (Streiks und Aussperrungen) sowie das Mitbestimmungsrecht in Unternehmen und Betrieben (Betriebsverfassungsrecht).
Die Arbeitsgerichte, Landesarbeitsgerichte und das Bundesarbeitsgericht mit Sitz in Erfurt bilden die Arbeitsgerichtsbarkeit. Dieses Skript legt den Fokus auf das Individualarbeitsrecht.
Die Zuordnung eines Problems in das Teilgebiet des Individualarbeitsrechts oder des Kollektivarbeitsrechts ist i.d.R. recht einfach. Verlangt der Arbeitnehmer etwas von seinem Arbeitgeber, handelt es sich meist um einen Fall aus dem Individualarbeitsrecht. Spielen hingegen z.B. Betriebsräte und ihr Verhältnis zum Arbeitgeber eine Rolle, liegt der Schwerpunkt auf dem kollektiven Recht. Trotz der vermeintlichen Teilung des Arbeitsrechts besteht eine starke Verknüpfung beider Säulen, sodass in der Praxis alle einschlägigen Normen beachtet werden müssen, egal welchem Gebiet sie entstammen.
Zunächst wird im Folgenden ein kurzer Überblick über die Rechtsquellen des Arbeitsrechts gegeben. Die Kenntnis der Quellen und ihrer Hierarchie ist unabdingbar, weil dadurch Kollisionen verschiedener Normen aufgelöst werden können.
Normenhierarchie und Rechtsquellen des Arbeitsrechts
Das deutsche Arbeitsrecht ist insofern eine Besonderheit in der Rechtslandschaft, als es kein einheitliches Gesetzbuch gibt, das alle Fragen zu dem Thema regelt. Das Arbeitsrecht ist vielmehr in einigen allgemeinen und in zahlreichen speziellen Gesetzbüchern „verteilt“. Ergänzt wird das geschriebene Recht durch die Rechtsprechung, die hier wie in kaum einem anderen Gebiet so umfassend auf die geltende Rechtslage einwirkt, sie gestaltet und zuweilen auch verändert.
Normenhierarchie
Wie in jedem Rechtsgebiet existiert auch im Arbeitsrecht eine Normenhierarchie der Rechtsquellen, an deren Spitze über dem Grundgesetz stehendes Europarecht steht, während am unteren Ende das dispositive, also das abdingbare Gesetzesrecht zu finden ist. Prinzipiell geht demnach auch hier das ranghöhere dem rangniederen Gesetz vor. Auflockerungen von diesem strengen Rangverhältnis können jedoch durch eine Besonderheit des Arbeitsrechts, dem Günstigkeitsprinzip, hervorgerufen werden. Im Einzelfall kann die rangniedere Vorschrift der ranghöheren ausnahmsweise vorgehen, wenn sie für den Arbeitnehmer günstiger ist als die eigentlich anwendbare Norm.
Rechtsquellen des Arbeitsrechts
Bei der Lösung eines arbeitsrechtlichen Falles sind zahlreiche Gesetze, Richtlinien und sonstige Rechtsnormen zu beachten. Hierbei handelt es sich insbesondere um
- das Europarecht,
- das Verfassungsrecht,
- einfachgesetzliche Regelungen (z.B. Normen aus dem BGB, TzBfG, EntgFG) sowie
- sonstige Rechtsquellen (z.B. der Arbeits- oder Tarifvertrag).
Dazu betrachten wir ein Lernvideo:
Europarecht
Entsprechend der oben dargestellten Rangfolge ist das geltende Europarecht als Erstes zu erwähnen. Als wichtigstes gesetzliches Regelungswerk ist der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (abgekürzt mit „AEUV“) zu nennen. Darin sind wichtige Grundsätze geregelt, etwa das allgemeine Diskriminierungsverbot in Art. 18 AEUV, die Arbeitnehmerfreizügigkeit in Art. 45 AEUV und die Entgeltgleichheit in Art. 157 AEUV.
Verfassungsrecht
Das Grundgesetz enthält wichtige Grundrechte, die auf das Arbeitsrecht einwirken. Die allgemeinen Grundrechte sind – da die Arbeitsvertragsparteien nicht zu den staatlichen Adressaten der Grundrechte gehören – nur über sog. Einfallstore (z.B. §§ 242, 315 BGB) des Zivilrechts zu berücksichtigen. Dies bedeutet, dass der Arbeitgeber z.B. bei Ausübung des billigen Ermessens i.S.d. § 315 Abs. 1 BGB darauf achten muss, dass er die familiäre Situation (Art. 6 GG) oder die Religionsfreiheit (Art. 4 GG) des Arbeitnehmers hinreichend in seine Überlegungen mit einbezieht.
Beispiel
Eine Einzelhandelskauffrau mit türkischen Wurzeln arbeitet in ihrem ehemaligen Ausbildungsbetrieb, einem Kaufhaus. Nach der Elternzeit erklärte die Arbeitnehmerin ihrem Arbeitgeber, dass sich ihre religiösen Vorstellungen gewandelt haben und sie daher künftig ein Kopftuch tragen werde. Ihr muslimischer Glaube verbiete es ihr, sich in der Öffentlichkeit ohne Kopftuch zu zeigen. Nachdem zwei Gespräche mit der Personalleitung sie nicht davon abbringen konnte, wurde sie gekündigt. Ihre Revision vor dem BAG (Urteil vom 10.10.2002, Az.: 2 AZR 472/01) hatte jedoch Erfolg. Die Arbeitnehmerin könne ihrer vertraglichen Verpflichtung auch ein Kopftuch tragend nachkommen. Weder Verkaufsgespräche noch -vorgänge würden dadurch gestört. „[…] Sowohl bei der Ausübung ihres Weisungsrechts als auch bei der Ausgestaltung dieser vertraglichen Pflicht ist das spezifische, durch Art. 4 Abs. 1 und 2 GG grundrechtlich geschützte Anliegen der Klägerin, aus religiösen Gründen nicht mehr ohne ein Kopftuch zu arbeiten, zu beachten. Auf Grund der verfassungsrechtlich gewährleisteten, im Arbeitsverhältnis bei der Ausübung des Weisungsrechts oder der Ausgestaltung der vertraglichen Rücksichtnahmepflicht zu berücksichtigenden Glaubens- und Bekenntnisfreiheit der Klägerin kann deshalb die Beklagte nicht ohne weiteres die Einhaltung der in ihrem Betrieb allgemein üblichen Bekleidungsstandards verlangen und die Klägerin zur Arbeitsleistung ohne ein Kopftuch wirksam auffordern.“ Die in § 315 Abs. 1 BGB geforderte Billigkeit werde inhaltlich durch die Grundrechte, hier vor allem durch die Glaubens- und Bekenntnisfreiheit des Art. 4 Abs. 1 GG und die Gewährleistung der ungestörten Religionsausübung des Art. 4 Abs. 2 GG, mitbestimmt.
Wie der Arbeitnehmer kann sich aber auch der Arbeitgeber auf Grundrechte berufen. So ist dem Arbeitnehmer etwa mit Blick auf die Berufsfreiheit des Arbeitgebers aus Art. 12 GG zuzumuten, dass er eine unternehmerische Grundentscheidung wie etwa die Wegrationalisierung seines Arbeitsplatzes hinnimmt.
Kollidiert das Recht des Arbeitgebers, im Rahmen seiner gleichfalls grundrechtlich geschützten unternehmerischen Betätigungsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG), den Inhalt der Arbeitsverpflichtung des Arbeitnehmers näher zu konkretisieren, mit grundrechtlich geschützten Positionen des Arbeitnehmers, so ist das Spannungsverhältnis einem grundrechtskonformen Ausgleich der Rechtspositionen zuzuführen. Dabei sind die kollidierenden Grundrechte in ihrer Wechselwirkung zu sehen und so zu begrenzen, dass die geschützten Rechtspositionen für alle Beteiligten möglichst weitgehend wirksam werden (sog. praktische Konkordanz).
Die Abwägung der Grundrechte kann dazu führen, dass – sogar bei sonst sehr ähnlichem Sachverhalt – die erkennenden Gerichte zu ganz anderen Entscheidungen kommen.
Art. 9 Abs. 3 GG enthält eine besondere Regelung, die auch ohne den eben beschriebenen „Umweg“ direkt auf das Arbeitsverhältnis Einfluss nimmt. Die Sätze 1 und 2 der Norm lauten:
„Das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden, ist für jedermann und für alle Berufe gewährleistet. Abreden, die dieses Recht einschränken oder zu behindern suchen, sind nichtig, hierauf gerichtete Maßnahmen sind rechtswidrig.“
Der Verfassungsgeber hat also ausdrücklich klargestellt, dass zwischen den Arbeitsvertragsparteien keine Regelungen getroffen werden dürfen, die etwa die Zugehörigkeit des Arbeitnehmers zu einer Gewerkschaft untersagen. Solche Klauseln im Arbeitsvertrag sind ohne Weiteres nichtig, der Arbeitnehmer darf sie ignorieren.
Einfaches Recht
Eine der wichtigsten Quellen im normierten einfachen Recht ist das Bürgerliche Gesetzbuch. In den §§ 611 ff. des BGB sind Regelungen zum generellen Typus des Dienstvertrages und im mittlerweile neu eingeführten § 611a BGB zum Arbeitsvertrag als spezielle Form des Dienstvertrags enthalten. Begriffe wie „Arbeitnehmer“, „Arbeitgeber“ und „Arbeitsverhältnis“ deuten dabei auf Spezialnormen des Arbeitsrechts hin.
Im BGB finden sich darüber hinaus im allgemeinen Teil Vorschriften, die direkt im Arbeitsrecht gelten (etwa die Regelungen zur Geschäftsfähigkeit, Anfechtung von Willenserklärungen, Sittenwidrigkeit).
Auf der Ebene des einfachen Rechts spielt weiterhin eine große Rolle das „Gesetz über Teilzeitarbeit und befristete Arbeitsverträge“ (TzBfG), welches die Teilzeitarbeit in Grundzügen regelt und unter bestimmten Voraussetzungen die Befristung und Bedingung von Arbeitsverhältnissen erlaubt.
Während der Durchführung des Arbeitsverhältnisses sind unter anderem das Arbeitszeitgesetz (ArbZG), das Bundesurlaubsgesetz (BUrlG) und das Entgeltfortzahlungsgesetz (EntgFG) wichtig, die neben vielen anderen Schutzgesetzen wie beispielsweise dem Mutterschutzgesetz (MuSchG) und dem Jugendschutzgesetz (JuSchG) den Inhalt des Arbeitsverhältnisses maßgeblich mitbestimmen.
Von enormer Bedeutung ist auch § 106 Gewerbeordnung (GewO), der das Weisungsrecht des Arbeitgebers regelt. Wenn es um die Beendigung der arbeitsvertraglichen Beziehungen geht, ist das Kündigungsschutzgesetz (KSchG) von großer praktischer Bedeutung. Hinzu kommt noch das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG), das insbesondere bei der Anbahnung und Begründung, aber auch im laufenden Arbeitsverhältnis eine Rolle spielt.