Florian Solich - Steuerberater, Master of Arts (Taxation), M.A.
Leitsatz
Ein nach § 165 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 AO für vorläufig erklärter Steuerbescheid kann nicht gemäß § 165 Abs. 2 AO zu Lasten des Steuerpflichtigen geändert werden.
Tenor
Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Finanzgerichts Köln vom 12.07.2023, 3 K 1356/22 wird als unbegründet zurückgewiesen.
(…)
Tatbestand
Die Klägerin A studierte in den Jahren 2011 – 2016 Medizin. Zuvor schloss sie eine dreimonatige Ausbildung zur Rettungssanitäterin ab. In den Steuererklärungen 2015 und 2016 machte A Kosten für ihre Berufsausbildung i. S. d. § 9 Abs. 6 EStG geltend.
Das Finanzamt (Beklagte und Revisionskläger) erkannte die Ausbildungskosten, aber abweichend von der gesetzlichen Regelung in § 9 Abs. 6 EStG, als Werbungskosten für eine Zweitausbildung an.
Die Steuerbescheide ergingen hinsichtlich der Abziehbarkeit der Aufwendungen für eine Berufsausbildung unter dem Vorläufigkeitsvermerk gem. § 165 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 AO.
Vertiefung
§ 165 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 AO
Soweit ungewiss ist, ob die Voraussetzungen für die Entstehung einer Steuer eingetreten sind, kann sie vorläufig festgesetzt werden.
Diese Regelung ist auch anzuwenden wenn,
Nr. 3 die Vereinbarkeit eines Steuergesetzes mit höherrangigem Recht Gegenstand eines Verfahrens bei dem Gerichtshof der Europäischen Union, dem Bundesverfassungsgericht oder einem obersten Bundesgericht ist.
Im Vorläufigkeitsvermerk wurde ausgeführt, ob § 4 Abs. 9, § 9 Abs. 6 EStG mit höherrangigem Recht vereinbar sei.
Nachdem das BVerfG mit Beschluss vom 19.11.2019, 2 BvL 22/14, 2 BvL 23/14, 2 BvL 24/14, 2 BvL 25/14, 2 BvL 26/14, 2 BvL 27/14 (VerfGE 152, 274) entschieden hatte, dass § 9 Abs. 6 EStG verfassungsgemäß sei, änderte das Finanzamt 2021 die entsprechenden Einkommensteuerbescheide nach § 165 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 i. V. m. Abs. 2 AO. Grund dafür war, dass die Ausbildung von A zur Rettungssanitäterin nicht dem vom Gesetz geforderten Mindestumfang von 12 Monaten Ausbildungszeit aufwies. Deshalb sei das Medizinstudium als Erstausbildung anzusehen, so dass die Aufwendungen nicht als Werbungskosten gem. § 9 Abs. 6 EStG abzugsfähig seien. Es handele sich damit um Sonderausgaben i. S. d. § 10 EStG. Die ursprünglichen Steuerfestsetzungen seien daher zu Lasten von A zu ändern.
Der nach erfolglosem Einspruchsverfahren erhobenen Klage gab das Finanzgericht mit den in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2024, S. 909 veröffentlichen Gründen statt.
- Das Finanzamt rügt mit Einlegung der Revision die Verletzung materiellen Rechts und beantragt das Urteil des Finanzgerichts Köln vom 12.07.2023, 3 K 1356/22 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
- A beantragt, die Revision als unzulässig zu verwerfen, hilfsweise als unbegründet zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Der BFH hat die Revision des Finanzamts als zulässig erklärt. Sie ist aber unbegründet und deshalb zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 FGO).
Der BFH bestätigt die Urteilsentscheidung des Finanzgerichts. Das Finanzamt war nach § 165 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 i. V. m. Abs. 2 S. 1, S. 2 AO nicht befugt, die Einkommensteuerbescheide, in denen die Ausbildungskosten als Werbungskosten angesetzt wurden, zu ändern.
- 165 Abs. 2 S. 1, S. 2 AO erlaubt nicht die Korrektur einer rechtswidrigen, nach § 165 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 AO vorläufigen Steuerfestsetzung weder zu Lasten noch zu Gunsten des Steuerpflichtigen (BFH-Urteil vom 30.11.2023, IV R 13/21, Rz. 35).
Der BFH sieht im Wortlaut des § 165 Abs. 2 S. 1 AO die notwendigen Rahmenbedingungen einer Bescheidkorrektur als eindeutig an. Demnach sind die Finanzbehörden nur soweit zu einer Änderung des Steuerbescheids befugt, als sie die Steuer vorläufig festgesetzt haben. Es handele sich damit nicht um eine allgemeine Korrekturvorschrift für eine rechtmäßige Steuerfestsetzung. Vielmehr erlaube der Umstand, dass eine Steuer vorläufig festgesetzt wurde, Änderungen nur insoweit, als sie dem durch die Vorläufigkeitsvermerke gesteckten Änderungsrahmen entsprechen. Im Übrigen wird die Steuerfestsetzung bestandskräftig und kann nur nach den §§ 172 ff. AO oder gem. § 129 AO berichtigt werden.
Streitpunkt in diesem Urteil ist, wenn die Festsetzung der Einkommensteuer gem. § 165 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 AO wegen eines beim BVerfG anhängigen Verfahrens zur Vereinbarkeit eines Steuergesetzes mit höherrangigem Recht (hier: Abziehbarkeit der Aufwendungen für eine Berufsausbildung oder ein Studium als Werbungskosten oder Betriebsausgaben nur nach vorheriger zwölfmonatiger Erstausbildung) für vorläufig erklärt wurde, ob die Einkommensteuerfestsetzung dann nur mit einer vom BVerfG bestätigten Entscheidung zur Unvereinbarkeit mit höherrangigem Recht aufgehoben oder geändert werden kann.
Bestätigt das BVerfG dagegen die Vereinbarkeit der Steuergesetze mit höherrangigem Recht, besteht hingegen kein Korrekturbedarf. Mithin ist dadurch eine Änderung der Steuerfestsetzung ausgeschlossen. Stattdessen ist sie auf Antrag des Steuerpflichtigen sogar für endgültig zu erklären (§ 165 Abs. 2 S. 4 AO).
In der Urteilsentscheidung hebt der BFH nochmal den Sinn und Zweck des § 165 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 AO hervor und zeigt, dass diese Korrekturmöglichkeit Einschränkungen enthält. Der Sinn und Zweck einer nach § 165 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 AO vorläufigen Steuerfestsetzung streiten ebenfalls dafür, dass deren Änderung zu Lasten des Steuerpflichtigen auch bei vorliegender Rechtswidrigkeit nicht auf § 165 Abs. 2 AO gestützt werden kann. Denn der Vorläufigkeitsvermerk nach § 165 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 AO dient zur Vermeidung von Masserechtsbehelfen und damit der Entlastung der Steuerpflichtigen, der Finanzbehörden und der Gerichte in Fällen von anhängigen Musterverfahren. Er ermöglicht dem Finanzamt damit eine vorläufige Steuerfestsetzung im Rahmen der geltenden Steuergesetze. Demgegenüber wird dem Finanzamt dadurch nicht die Möglichkeit eröffnet, die Steuer – im Hinblick auf eine mögliche Unvereinbarkeit des anzuwendenden Steuergesetzes mit höherrangigem Recht – abweichend von der geltenden Rechtslage vorläufig festzusetzen.
Eine Korrektur ergibt sich nur dann, wenn das BVerfG das zu Lasten des Steuerpflichtigen wirkende Steuergesetz als mit der Verfassung für nicht vereinbar erklärt. In solchen Fällen ist der Steuerbescheid zu Gunsten des Steuerpflichtigen zu ändern. Eine Änderung zu Ungunsten des Steuerpflichtigen sieht § 165 Abs. 2 S. 1, S. 2 Hs. 1 AO im Fall des § 165 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 AO nicht vor (BFH-Urteil vom 30.11.2023, IV R 13/21, Rz. 37, m. w. N.).
Fazit
Das Finanzgericht hat im Streitfall zu Recht entschieden, dass das Finanzamt keine Berechtigung hatte, die erstmalig erlassenen Steuerbescheide, in denen die Werbungskosten von A unrechtmäßig bei den Einkünften aus nichtselbstständiger Arbeit abgezogen wurden, gem. § 165 Abs. 2 AO zu ändern.
Eine Berichtigung nach § 129 AO bzw. eine Änderung nach §§ 172 ff. AO kommt, was zwischen A und dem Finanzamt auch nicht im Streit steht, ebenfalls nicht in Betracht.
Quelle: BFH-Urteil vom 29.04.2025, VI R 14/23