Florian Solich - Steuerberater, Master of Arts (Taxation), M.A.
Leitsatz
Es ist rechtlich zweifelhaft, ob bei einem Erwerb von Anteilen an einer GmbH, bei dem das schuldrechtliche Erwerbsgeschäft (Signing) und die Übertragung der GmbH-Anteile (Closing) zeitlich auseinanderfallen, zweimal Grunderwerbssteuer nach § 1 Abs. 2b, § 1 Abs. 3 Nr. 1 GrEStG festgesetzt werden kann, wenn dem Finanzamt im Zeitpunkt der Festsetzung der Grunderwerbsteuer nach § 1 Abs. 3 Nr. 1 GrEStG bekannt ist, dass die Übertragung der GmbH-Anteile (Closing) bereits erfolgt ist.
Tenor
Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Finanzgerichts Berlin-Brandenburg vom 09.01.2025, 12 V 12130/24 aufgehoben.
Die Vollziehung des angefochtenen Grunderwerbsteuerbescheids vom 30.05.2024 wird bis zum Ablauf eines Monats nach Bekanntgabe einer das Einspruchsverfahren abschließenden Entscheidung aufgehoben.
(…)
Tatbestand
Mit notariell beurkundetem Vertrag vom 11.03.2024 (sog. Signing) erwarb A (Antragsstellerin und Beschwerdeführerin) sämtliche Anteile an einer Grundbesitz-GmbH (G-GmbH). Die Abtretung der Geschäftsanteile (sog. Closing) erfolgt nach erfolgter Kaufpreiszahlung am 29.03.2024. Der Grundstücksbestand der G-GmbH veränderte sich bis zu diesem Zeitpunkt nicht.
Den Kaufvertrag reichte der zuständige Notar am 04.04.2024 beim Finanzamt (Antragsgegner und Beschwerdegegner) ein. Eine Anzeige für den Übergang der GmbH-Anteile wurde beim Finanzamt nicht eingereicht.
Das Finanzamt setzte jeweils mit Bescheid vom 30.05.2024 zweimal Grunderwerbsteuer fest. Der erste Grunderwerbsteuerbescheid erging aufgrund des Wechsels am Gesellschafterbestand (Vorgang vom 29.03.2024; § 1 Abs. 2b GrEStG). Der zweite Steuerbescheid wurde für die Anteilsvereinigung bei A erlassen (Vorgang vom 11.03.2024; § 1 Abs. 3 Nr. 1 GrEStG). Bemessungsgrundlage waren jeweils geschätzte Bodenrichtwerte.
Vertiefung
§ 1 Abs. 2b, § 1 Abs. 3 Nr. 1 GrEStG
§ 1 Abs. 2b GrEStG:
Gehört zum Vermögen einer Kapitalgesellschaft ein inländisches Grundstück und ändert sich innerhalb von zehn Jahren der Gesellschafterbestand unmittelbar oder mittelbar dergestalt, dass mindestens 90 % der Anteile der Gesellschaft auf neue Gesellschafter übergehen, gilt dies als ein auf die Übereignung eines Grundstücks auf eine neue Kapitalgesellschaft gerichtetes Rechtsgeschäft.
(…)
§ 1 Abs. 3 Nr. 1 GrEStG:
Gehört zum Vermögen einer Gesellschaft ein inländisches Grundstück, so unterliegen der Steuer, soweit eine Besteuerung nach den Absätzen 2a und 2b nicht in Betracht kommt, außerdem:
Nr. 1 ein Rechtsgeschäft, das den Anspruch auf Übertragung eines oder mehrerer Anteile der Gesellschaft begründet, wenn durch die Übertragung unmittelbar oder mittelbar mindestens 90 % der Anteile der Gesellschaft in der Hand des Erwerbers oder in der Hand vom herrschenden und abhängigen Unternehmen oder abhängigen Personen oder in der Hand von abhängigen Unternehmen oder abhängigen Personen allein vereinigt werden würden.
(...)
Die Grunderwerbsteuer wurde für beide Vorgänge festgesetzt und gezahlt. Die Bescheide ergingen unter dem Vorbehalt der Nachprüfung (§ 164 AO).
A hatte gegen den ihr persönlich erlassenen Steuerbescheid Einspruch eingelegt. Dieser ist derzeit noch anhängig. Einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung (AdV) lehnten das Finanzamt und das Finanzgericht ab.
A erhob Beschwerde, welche vom Finanzgericht zugelassen wurde. A trägt vor, dass ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheids bestehen. Der Gesetzgeber habe keine zweifache Belastung desselben Anteilsübergangs mit Grunderwerbsteuer gewollt. Es seien zwar unterschiedliche Tatbestände i. S. d. § 1 Abs. 2b, § 1 Abs. 3 GrEStG erfüllt, allerdings schreibe der Einleitungssatz in § 1 Abs. 3 GrEStG ausdrücklich vor, dass eine Besteuerung nach § 1 Abs. 3 GrEStG nur erfolgen solle, soweit eine Besteuerung nach § 1 Abs. 2a, Abs. 2b GrEStG nicht in Betracht kommt. Aus § 16 Abs. 4a, Abs. 5 S. 2 GrEStG folgt auch nichts anderes. Anderenfalls führe ein formaler Verstoß, wie im Streitfall die verspätete Anzeige des Closings, zu einer endgültigen Doppelbesteuerung.
A ergänzt auch, dass zum Verhältnis der Ergänzungstatbestände derzeit noch keine höchstrichterliche Rechtsprechung vorliegt. Dasselbe gilt für die strittige Rechtsfrage, wem ein Grundstück bei sog. Share Deals in welcher Phase gehöre.
Schließlich läge bei Ablehnung der vorgenannten Ausführungen eine widerstreitende Steuerfestsetzung vor, sodass auch aus diesem Grund ernstliche Zweifel bestehen. Maßgeblich sei, ob ein bestimmter Sachverhalt nach § 174 Abs. 1 AO in mehreren Steuerbescheiden zuungunsten eines oder mehrerer Steuerpflichtiger berücksichtigt worden sei.
Beiden Steuerfestsetzungen gegenüber A und der G-GmbH je vom 30.05.2024 liegt ein einheitlicher Lebenssachverhalt (Anteilsübertragung an der G-GmbH) zugrunde.
A beantragt, den Beschluss des Finanzgerichts vom 09.01.2025 aufzuheben und die Vollziehung des angefochtenen Grunderwerbsteuerbescheids vom 30.05.2024 aufzuheben.
Das Finanzamt beantragt, die Beschwerde als unbegründet zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die nach § 128 Abs. 3 S. 1 FGO zugelassene Beschwerde ist begründet. Zu Unrecht hat das Finanzgericht die beantragte AdV abgelehnt; der Antrag war ausreichend begründet.
Der BFH sieht in der Urteilssache eine Unrechtmäßigkeit in der Vollziehung der Grunderwerbsteuer vom 30.05.2024. Die Rechtslage ist in Bezug auf die Frage rechtlich zweifelhaft, ob bei einem Erwerb von GmbH-Anteilen, bei dem das schuldrechtliche Erwerbsgeschäft (Signing) und die Übertragung der Anteile (Closing) zeitlich auseinanderfallen, zweimal Grunderwerbsteuer nach § 1 Abs. 2b, § 1 Abs. 3 Nr. 1 GrEStG festgesetzt werden kann, wenn dem Finanzamt im Zeitpunkt der Festsetzung der Grunderwerbssteuer nach § 1 Abs. 3 Nr. 1 GrEStG bekannt ist, dass die Übertragung der GmbH-Anteile (Closing) bereits erfolgt ist.
Der BFH betont, dass in dieser Sache – auch unter Berücksichtigung der Regelung des § 16 Abs. 4a, Abs. 5 GrEStG – im Hinblick auf den Wortlaut der Regelung des Einleitungssatzes des § 1 Abs. 3 GrEStG rechtliche Zweifel bestehen.
Der BFH hat über die hier strittige Rechtsfrage – und auch bisher in anderen vergleichbaren Fällen, [Anm. d. Verf.] – noch nicht entschieden.
Die Finanzverwaltung geht in diesem Fall davon aus, dass nach dem Einleitungssatz des § 1 Abs. 3 GrEStG ein Vorrang des § 1 Abs. 2b GrEStG gegenüber einer Besteuerung nach § 1 Abs. 3 GrEStG nur besteht, soweit die Verwirklichung des § 1 Abs. 3 Nr. 2 oder Nr. 4 GrEStG gleichzeitig erfolgt.
Die Finanzverwaltung stützt sich hierbei auf den GLE der obersten Finanzbehörde der Länder zur Anwendung des § 1 Abs. 3 GrEStG vom 05.03.2024 (BStBl. I 2024, S. 383, Rz. 30). Demnach gelten beide Tatbestände als erfüllt und § 16 Abs. 4a, Abs. 5 soll vorrangig erfüllt werden, soweit die Besteuerungszeitpunkte des § 1 Abs. 3 Nr. 1 oder Nr. 3 GrEStG und § 1 Abs. 2b GrEStG auseinanderfallen.
Daher ist es rechtlich zweifelhaft, ob sich diese Auffassung mit dem Wortlaut des Einleitungssatzes des § 1 Abs. 3 GrEStG deckt. Demnach erfolgt eine Besteuerung nach § 1 Abs. 3 GrEStG nur, wenn zum Vermögen einer Gesellschaft ein inländisches Grundstück gehört und eine Besteuerung nach § 1 Abs. 2b GrEStG insoweit nicht greift.
Der BFH sieht darin eine Einschränkung für alle Tatbestände des § 1 Abs. 3 GrEStG, d. h. nicht nur für § 1 Abs. 3 Nr. 2, Nr. 4 GrEStG, sondern auch für § 1 Abs. 3 Nr. 1, Nr. 3 GrEStG, die bereits den Abschluss des Rechtsgeschäfts vor der Übertragung der Gesellschaftsanteile besteuern. Eine zeitliche Beschränkung lässt sich aus § 1 Abs. 3 GrEStG und auch aus dessen Gesetzesbegründung nicht entnehmen.
Der Gesetzgeber wollte aber ein gewisses Rangverhältnis ohne eine zeitliche Vorgabenregelung erzeugen (vgl. BT-Drucks. 19/13437, S. 12). Mit Einführung der Besteuerung von Änderungen am Gesellschafterbestand einer grundbesitzenden Gesellschaft nach § 1 Abs. 2b GrEStG durch das Gesetz zur Änderung des Grunderwerbsteuergesetz vom 12.05.2021 (BGBl. I 2021, S. 986; BStBl. I 2021, S. 838) wurde eben diese Vorrangregelung im Einleitungssatz des § 1 Abs. 3 GrEStG um den Tatbestand des § 1 Abs. 2b GrEStG erweitert.
Die Einfügung des § 16 Abs. 4a, Abs. 5 GrEStG hat den im Einleitungssatz des § 1 Abs. 3 GrEStG bestehenden Vorrang auch nicht aufgehoben. Danach ist eine Aufhebung der Steuerfestsetzung nach § 1 Abs. 3 GrEStG möglich, wenn der in § 1 Abs. 2 – 3a GrEStG vorliegende Erwerbsvorgang in allen Teilen vollständig angezeigt wurde.
Mit der Gesetzesbegründung zur Einführung der Regelung des § 16 Abs. 4a, Abs. 5 GrEStG vom 16.12.2022 (BGBl. I 2022, S. 2294; BStBl. I 2023, S. 7) hatte der Gesetzgeber Ausführungen zum zeitlichen Anwendungsvorrang der Konkurrenzregelung des Einleitungssatzes des § 1 Abs. 3 GrEStG gemacht. Der Anwendungsvorrang von § 1 Abs. 2a, Abs. 2b GrEStG soll nicht gelten, wenn der Abschluss des Rechtsgeschäfts und die Anteilsübertragung zeitlich auseinanderfallen. Da es sich in solchen Fällen um zwei Erwerbsvorgänge innerhalb desselben Lebenssachverhalts handelt, sei eine Doppelbesteuerung nicht gewollt und ermögliche § 16 Abs. 4a GrEStG auf Antrag eine Aufhebung oder Änderung der durch das Rechtsgeschäft nach § 1 Abs. 3 Nr. 1 oder Nr. 3 GrEStG festgesetzten Grunderwerbssteuer (vgl. BT-Drucks. 20/4729, S. 152).
Ausblick
Die zeitliche und sachliche Einschränkung des in dem formulierten Einleitungssatz zu § 1 Abs. 3 GrEStG materiellen Anwendungsvorrangs des § 1 Abs. 2b GrEStG vor einer Besteuerung nach § 1 Abs. 3 GrEStG kommt im Gesetzeswortlaut des Einleitungssatzes zu § 1 Abs. 3 GrEStG nicht zum Ausdruck.
Rechtlich zweifelhaft ist es danach, ob und in welchem Umfang § 16 Abs. 4a, Abs. 5 GrEStG als Korrekturvorschrift den im Einleitungssatz zu § 1 Abs. 3 GrEStG materiellen Anwendungsvorrang einschränkt.
Zweifel hinsichtlich der Steuerfestsetzung ergeben sich auch daraus, dass der Finanzverwaltung bei Erlass des angefochtenen Grunderwerbsteuerbescheids vom 30.05.2024 aufgrund des Anteilserwerbs nach § 1 Abs. 3 Nr. 1 GrEStG (Signing) bekannt war, dass der vom Notar angezeigte Anteilserwerb an der G-GmbH (Closing) am 29.03.2024 bereits erfolgt war und eine Grunderwerbsteuerpflichtig nach § 1 Abs. 2b GrEStG bestand.
Die Finanzverwaltung hatte dennoch am selben Tag zwei Steuerbescheide über den gleichen Anteilserwerb erlassen. Das Ergebnis dieses Streitfalls ist abzuwarten.
Quelle: BFH-Beschluss vom 09.07.2025, II B 13/25 (AdV)