Inhaltsverzeichnis
Einführung und Grundsätze
Es gilt in diesem Kapitel zu klären, was die Haftung im steuerrechtlichen Sinne bedeutet.
Verhältnis zwischen Steuerschuldner und Haftungsschuldner
Abgrenzung der Haftung zwischen Zivilrecht und Steuerrecht
Zivilrechtlich ist unter der Haftung das Einstehen müssen für die eigene oder eine fremde Schuld zu verstehen. Entsprechend gibt es also zwei Varianten hinsichtlich der zivilrechtlichen Haftung.
Variante I: Einstehen müssen für eine eigene Schuld
Beispiel
Der Käufer eines Grundstücks nimmt bei der Bank ein verzinsliches Darlehen zur Finanzierung des Kaufpreises auf. Zur Sicherung wird zu Gunsten der Bank eine Hypothek ins Grundbuch eingetragen.
= Der Eigentümer des Grundstücks schuldet gegenüber der Bank die Zinsen und die Tilgung für das Darlehen und er haftet mit dem Grundstück für die bereits bestehende Schuld auf Rückzahlung des Darlehens.
Variante II: Einstehen müssen für eine fremde Schuld
Beispiel
Der Unfallverursacher haftet für Schäden am Pkw des anderen Unfallteilnehmers, den keine Schuld trifft (Hinweis auf das Eintreten einer Versicherung für die Haftung des Schuldigen).
Steuerrechtlich ist unter der Haftung lediglich das Einstehen müssen für eine fremde Schuld zu verstehen.
- Steuerschuldner und Haftungsschuldner sind beide Steuerpflichtige gemäß § 33 Abs. 1 AO
- Erlass eines Steuerbescheides gegenüber dem Steuerschuldner, § 37 Abs. 1 AO i.V.m §§ 155 Abs. 1, 157 Abs. 1 AO (gebundender Verwaltungsakt)
- Erlass eines Haftungsbescheides gegenüber dem Haftungsschuldner, § 37 Abs. 1 AO i.V.m § 191 Abs. 1 AO (sonstiger Verwaltungsakt)
- Steuerbescheid und Haftungsbescheid gegenüber dem gleichen Inhaltsadressaten schließen sich gegenseitig aus!
- Steuerschuldner und Haftungsschuldner sind –unechte- Gesamtschuldner gemäß § 44 Abs. 1 AO; vgl. auch § 44 Abs. 2 Satz 1 AO!
Um Sachverhalte mit Haftungsfragen zu klären, sollten immer die folgenden vier Fragen beantwortet werden:
Gesamtrechtsnachfolge und Abgrenzung zur Haftung
Hinweis
Beachte AEAO zu § 122 AO, Tz 2.12.
Der/Die Gesamtrechtsnachfolger (Erbe/n) ist/sind nach § 45 AO i.V.m. § 37 Abs. 1 AO regelmäßig Steuerschuldner für die steuerlichen Verbindlichkeiten des Erblassers. Im Umkehrschluss gehen Erstattungsansprüche nach § 45 AO i.V.m. § 37 Abs. 2 AO aus dem Steuerschuldverhältnis auf den/die Erbe/n über.
Ausnahme:
Der Erblasser hat in seiner Person die tatbestandlichen Voraussetzungen eines Haftungstatbestandes erfüllt (z.B. § 69 AO als ehemaliger Geschäftsführer der GmbH) = Erlass eines Haftungsbescheides gegenüber dem/den Gesamtrechtsnachfolger/n aufgrund eines haftungsbegründeten Tatbestandes des Erblassers in Anwendung von § 45 Abs. 1 und 2 AO.
Bei Steuerfestsetzungen für Zeiträume vor dem Tod des Erblassers sind hinsichtlich der Erteilung von Steuerbescheiden folgende Punkte zu beachten:
- Steuerschuldner ist der Erbe/sind die Erben nach den Vorschriften des Zivilrechts = Erlass eines Steuerbescheides und somit Steuerschuldnerschaft
bei mehreren Erben besteht Gesamtschuldnerschaft nach § 44 AO; Erteilung eines zusammengefassten Steuerbescheides ist zulässig, § 155 Abs. 3 Satz 1 AO
Steuerbescheid muss im Hinblick auf ordnungsgemäße Entstehung zwingend den Hinweis enthalten, dass der Bescheid aufgrund der Gesamtrechtsnachfolge ergeht; falls nein: StB ist nichtig und unwirksam, §§ 125 Abs. 1, 124 Abs. 3 AO unter Hinweis auf den AEAO zu § 122 AO, Tz. 2.12 und 4.1.2
Bekanntgabe an den/die Erben als Gesamtrechtsnachfolger, Anwendung des § 122 Abs. 6 und 7 AO bei mehreren Erben
Beispiel
Der ledige Fritz Trunk (FT) hatte seinen Wohnsitz in 47574 Goch, Dorfstr. 8. Fritz Trunk ist am 31.05.08 verstorben. Bis zu seinem Tode hat FT in Goch die Gaststätte „Zum Schluckspecht“ als Einzelunternehmen betrieben.
Alleinerbe ist nach den §§ 1922 ff. BGB sein Sohn Stefan Trunk (ST), der das Erbe angenommen hat. ST (23 Jahre) hat seinen Wohnsitz ebenfalls in Goch, Dorfstr. 8.
Die Einkommensteuererklärung für 06 hat FT am 02.05.08 beim zuständigen Finanzamt Kleve eingereicht. Durch Steuerbescheid vom 06.06.08 (Tag der Aufgabe zur Post) wurde die Einkommensteuer 06 auf 28.000 € festgesetzt; nach Anrechnung der geleisteten Vorauszahlungen ergab sich eine Abschlusszahlung von 12.000 €.
Der Bescheid ist an Herrn Fritz Trunk gerichtet. Weil das Finanzamt noch keine Kenntnis vom Tod des Steuerpflichtigen hat, enthält die Steuerfestsetzung keine weiteren Angaben. Der Bescheid wurde an die Wohnsitzadresse des FT übermittelt und von seinem Sohn zur Kenntnis genommen.
Stefan Trunk ist der Auffassung, dass er für steuerliche Verpflichtungen seines Vaters nicht in Anspruch genommen werden kann.
Fragestellungen
1. Nach welcher gesetzlichen Regelung hat der Erbe die steuerlichen Pflichten des Erblassers zu erfüllen?
Gemäß § 45 AO gehen bei einer Gesamtrechtsnachfolge die Forderungen und Schulden aus dem Steuerschuldverhältnis auf den Rechtsnachfolger über. Stefan Trunk ist als Alleinerbe nach § 1922 Abs. 1 BGB Gesamtrechtsnachfolger des verstorbenen Fritz Trunk.
2. Nehmen Sie dazu Stellung, wie die zutreffende Bezeichnung des Steuerschuldners im Fall der Gesamtrechtsnachfolge zu erfolgen hat.
Aufgrund der Regelungen in § 45 AO ist der Erbe Steuerschuldner und es ist zwingend ein Steuerbescheid als gebundener Verwaltungsakt zu erlassen.
Der Steuerbescheid ist im Falle des Todes des Stpfl. unter Verweis auf die Regelungen in § 45 AO an den/die Erben als Inhalts- und Bekanntgabeadressat/en zu richten; vgl. hierzu § 157 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 45 AO.
Für die wirksame Entstehung des Bescheides ist es weiter erforderlich, dass sich aus dem Inhalt des Bescheides der Hinweis ergibt, dass der Steuerschuldner (Stefan Trunk) als Gesamtrechtsnachfolger des Erblassers (Fritz Trunk) in Anspruch genommen wird; vgl. hierzu AEAO, Tz 2.12.2. mit Beispielen.
Wird ein Einkommensteuerbescheid in den Fällen der Gesamtrechtsnachfolge ohne einen derartigen Zusatz erteilt, handelt es sich um einen schwerwiegenden und nicht heilbaren Entstehungsfehler i.S. des § 125 Abs. 1 i.V.m. § 124 Abs. 3 AO.
3. Prüfen Sie, ob der Einkommensteuerbescheid 06 vom 06.06.08 wirksam geworden ist.
Weil der Steuerpflichtige bei Bekanntgabe des Bescheides bereits verstorben war, ist der an den Rechtsvorgänger gerichteter Bescheid unwirksam gemäß § 125 Abs. 1 AO, weil er sich an eine nicht mehr existierende Person richtet; vgl. AEAO, Tz 4.1.2 zu § 122 AO.
Es handelt sich um einen schwerwiegenden Fehler bei der Entstehung des Verwaltungsaktes; somit ist die Bekanntgabe rechtlich ohne Bedeutung, weil sich die Nichtigkeit bereits aus der fehlerhaften Entstehung des Bescheides ergibt.
Nach alledem ist das Finanzamt weiterhin verpflichtet, dem Alleinerben Stefan Trunk einen erstmalig wirksamen Einkommensteuerbescheid für 06 zu erteilen.
Wegen der Rechtsfolgen auf das Leistungsgebot wird auf § 218 Abs. 1 AO verwiesen; Voraussetzung für die Steuererhebung ist ein (fehlerhaft-) wirksamer Steuerbescheid. Somit ergeben sich aus dem nichtigen Verwaltungsakt keinerlei Zahlungspflichten für den Erben als Gesamtrechtsnachfolger!
Abwandlung:
Wie wäre zu entscheiden, wenn der Einkommensteuerbescheid 06 am 27.05.08 zur Post gegeben worden wäre und von FT am 28.05.08 zur Kenntnis genommen worden wäre?
In diesem Fall ist der EStB 06 gegenüber FT wirksam entstanden und wirksam bekannt gegeben worden, weil er vor dem Tode des Stpfl. zugegangen ist = Die Wirksamkeit im Sinne des § 124 Abs. 1 AO ist unter Beachtung der Zugangsfiktion des § 122 Abs. 2 Nr.1 AO am 30.05.08 eingetreten.
Somit wirkt der Steuerbescheid auch ggü. dem Gesamtrechtsnachfolger, vgl. AEAO Tz 2.12.1. und 2.12.2. zu § 122 AO.
Die Einspruchsfrist endet mit Ablauf des 30.06.08, §§ 355 Abs. 1 S. 1, 122 Abs. 2 Nr. 1 AO, § 108 Abs. 1 AO i.V.m. §§ 187 Abs. 1, 188 Abs. 2 BGB.